Mrs. Chippy – Das tragische Schicksal der berühmtesten Schiffskatze der Antarktisexpedition
Im Jahr 1914 brach Sir Ernest Shackleton mit der Endurance zu seiner berühmten Imperial Trans-Antarctic Expedition auf. Unter den 28 Männern befand sich auch der Zimmermann Harry “Chippy” McNish – und mit ihm eine auffällige, getigerte Katze: Mrs. Chippy. Trotz ihres Namens war sie ein Kater, doch der Spitzname blieb, weil er McNish wie ein treues, geschäftiges Haustier auf Schritt und Tritt begleitete. Schon bald eroberte Mrs. Chippy die Herzen der Crew. Sie soll mit traumwandlerischer Sicherheit über die schmalen Relings balanciert sein, Mäuse an Bord gejagt haben und in den kalten Nächten als lebende Wärmflasche gedient haben.

„Poor little Chippy had to be shot today – a very great pity.“ – Alexander Macklin, Expeditionsarzt der Endurance, Tagebucheintrag vom 29. Oktober 1915 (Quelle: British Library Archives, Macklin Diaries)
Kommentar: Dieses Zitat des Schiffsarztes dokumentiert nicht nur das Ereignis selbst, sondern spiegelt auch die emotionale Belastung wider, die mit dem Abschied von Mrs. Chippy verbunden war.
Schiffskatzen – ein vertrautes Bild zur damaligen Zeit
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Schiffskatzen keine Seltenheit, sondern fester Bestandteil vieler Besatzungen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, Vorräte vor Nagetieren zu schützen und damit Krankheiten einzudämmen. Darüber hinaus galten Katzen als Glücksbringer – ein Aberglaube, der in der harten Welt der Seefahrt Trost spenden konnte. Besonders auf langen Expeditionen boten sie emotionale Unterstützung, halfen gegen Einsamkeit und gaben der Mannschaft ein Stück Normalität in einer lebensfeindlichen Umgebung. Mrs. Chippy war in dieser Hinsicht ein Musterbeispiel: unerschrocken, anpassungsfähig und immer in der Nähe der Männer, die ihn wie ein volles Crewmitglied behandelten.
Das Ende der Endurance
Die Expedition nahm jedoch eine dramatische Wendung, als die Endurance im Packeis der Weddellsee stecken blieb. Wochenlang versuchte die Crew, das Schiff freizubekommen, doch die gewaltigen Eismassen drückten mit solcher Kraft gegen den Rumpf, dass er im Oktober 1915 schließlich zerbrach. Shackleton stand vor einer schmerzhaften Entscheidung: Nur das absolut Notwendige konnte gerettet werden, um den Marsch über das Eis zu überleben. Mrs. Chippy und mehrere Schlittenhunde wurden erschossen – nicht aus Grausamkeit, sondern weil die Männer selbst kaum Aussicht hatten, in dieser extremen Kälte zu überleben.
Von den 28 Mitgliedern der Endurance-Besatzung überlebten alle – ein außergewöhnliches Ergebnis in der Geschichte der Polarexpeditionen, das Shackletons Führungsqualitäten und die Disziplin seiner Männer unterstreicht. Doch der Preis war hoch, und der Verlust von Mrs. Chippy hinterließ besonders bei McNish tiefe Spuren.
Eine lebensfeindliche Welt für Katzen
Die Antarktis ist für Katzen ein nahezu unbewohnbares Ökosystem. Selbst im kurzen Sommer steigen die Temperaturen kaum über den Gefrierpunkt, während im Winter Dunkelheit und Kälte das Land monatelang beherrschen. Für eine Katze wie Mrs. Chippy hätte nicht nur die extreme Kälte eine Bedrohung dargestellt, sondern auch das völlige Fehlen geeigneter Nahrung: Kleintiere, Vögel oder andere Beutetiere sind dort praktisch nicht vorhanden, und das Meer, aus dem die Menschen ihre Proteine zogen, war für sie keine Nahrungsquelle. Zudem hätten Wind, Schneestürme und die ständige Nässe das Risiko einer lebensgefährlichen Unterkühlung rapide erhöht. Anders als Wildtiere, die an diese Bedingungen angepasst sind, verfügen Hauskatzen über keinerlei physiologische Mechanismen, um längere Zeit in solcher Kälte und Isolation zu überstehen. Ohne den Schutz und die Versorgung der Menschen wäre Mrs. Chippy den Kräften dieser unwirtlichen Landschaft binnen weniger Stunden oder Tage erlegen.
Hätte Mrs. Chippy ohne menschliche Hilfe überlebt?
Aus heutiger Sicht lässt sich die Frage klar beantworten: Nein, Mrs. Chippy hätte ohne die Fürsorge der Crew keine realistische Überlebenschance gehabt. Die klimatischen Bedingungen, das Fehlen jeglicher Nahrung und die Unmöglichkeit, Schutz vor den Elementen zu finden, machten die Antarktis zu einer tödlichen Falle für jedes domestizierte Tier. Auch wenn die Entscheidung, ihn zu töten, menschlich schwer zu ertragen war, bedeutete sie wahrscheinlich, ihm ein längeres Leiden zu ersparen. Die Geschichte von Mrs. Chippy steht heute als Symbol für die tiefen Bindungen zwischen Menschen und Tieren – und für die harten Entscheidungen, die in Extremsituationen getroffen werden müssen.
Quellen und Literatur:
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Shackleton, E. H. (1919). South: The Endurance Expedition.
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Huntford, R. (1985). Shackleton.
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Macklin, A. H. (Expeditionsjournale, British Library Archives).
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Journal of Thermal Biology (2019): Cold Stress in Small Mammals.
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Humane Society International (2021): Thermal Regulation in Domestic Cats.
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British Antarctic Survey: Climatic Conditions of the Weddell Sea Region.
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Moser, S. (2007). Animals in Polar Expeditions: Companions and Victims.
International Journal of Maritime History (2012): The Role of Cats on 19th- and Early 20th-Century Ships.
Disclaimer
Dieser Artikel basiert auf historischen Berichten, wissenschaftlicher Fachliteratur zur Thermophysiologie von Hauskatzen und den klimatischen Bedingungen in der Antarktis. Die Einschätzungen zu Mrs. Chippys Überlebenschancen stützen sich auf heutige wissenschaftliche Erkenntnisse. Die historischen Details wurden nach bestem Wissen recherchiert und quellenkritisch eingeordnet. Es handelt sich um eine populärwissenschaftliche Aufbereitung ohne Anspruch auf vollständige historiografische Erschöpfung.